Dr. Margret Pohl, ehrenamtliche Kinder- und Jugendärztin in unserer medizinischen Ambulanz ohne Grenzen,
befand sich Ende November für einige Tage momentan auf Lesbos, um geflüchtete Menschen mit Behinderung im Camp Mavrovouni („Moria 2.0“) zu behandeln und nach einer geeigneten Hilfsmittelversorgung zu schauen.
In unserem Blog schrieb sie täglich über den Einsatz.
Der erste Tag: Anreise
Der erste Tag vergeht mit der Anreise, dem Flug von Frankfurt nach Athen, dann später von Athen nach Lesbos und der Fahrt vom Flughafen Mytilini zum Hotel und endet mit einem herzlichen Empfang im Hotel.
Der zweite Tag auf Lesbos: Erste Kontakte und allgemeine Situation
8 Uhr morgens, es stürmt und regnet in Strömen und viele reife Orangen fallen von den zahlreichen, üppig behängten Bäumen auf die Straßen. Zunächst bekomme ich ein liebevoll zubereitetes Frühstück und erlebe liebenswerte Gastgeber in dem einfachen, aber gut ausgestatteten Hotel am Rande der Hauptstadt.
Bald regnet es nur noch wenig und ich mache mich auf den Weg, Mytilini und Umgebung zu erkunden und mir ein Stimmungsbild innerhalb der Bevölkerung bezüglich des Flüchtlingslagers zu machen. Ich spreche mit sehr vielen Menschen in Geschäften, auf der Straße, in Cafés und lerne eine in Mytilini niedergelassene Dermatologin kennen.
Bei allen Gesprächen höre ich raus, wie schwer es für die Menschen hier ist: durch das Flüchtlingscamp und COVID seien viele Tourist:innen mit der Zeit ferngeblieben. Die Insel ist arm, viele Häuser kaputt, viele Geschäfte leerstehend. Eine gewisse Schwere hängt über der pittoresken Insel mit ihren sehr freundlichen, offenen Menschen.
Es gibt wie immer viele unterschiedliche Blickwinkel auf ein Problem…
Der dritte Tag auf Lesbos: Besichtigung des Camps und des Friedhofs
Noch bevor ich mich um elf Uhr mit Fabiola und ihrem Partner Sohrab treffe (beide sind im Camp tätig, Fabiola ist Physiotherapeutin und kümmert sich rührend um medizinische, aber auch soziale Anliegen), fahre ich ein erstes Mal zum Flüchtlingscamp Mavrovouni (RIIC) Legal Center Lesvos (bekannt auch als „Moria 2.0“).
Moria heißt der zu Mytilini gehörende Ortsteil, in dem sich das Camp befindet. Es liegt direkt am Meer, ist eingezäunt, zum Teil mit Stacheldraht umgeben und von Polizisten bewacht, das Eingangstor aber im Augenblick offen. Ich mache Fotos und werde umgehend von einem Polizisten gerügt, da Fotos nicht erlaubt seien. Allerdings wird nirgendwo für mich sichtbar darauf hingewiesen. Der Polizist erweist sich im Verlauf unseres Gespräches als sehr nett und offen, vor allem, nachdem ich erzähle, warum ich dort bin und dass ich morgen dort ärztlich tätig sein werde.
Anschließend fahre ich zurück zum Hafen. Ich sehe auf meinem Weg immer wieder geflüchtete Menschen zu Fuß unterwegs und alle – soweit ich das vom Auto aus beurteilen kann – sind warm und der Witterung angepasst gekleidet. Mit Fabiola und Sohrab, sowie zwei weiteren engagierten Vertreter:innen anderer Vereine (Martina Günther von Space Eye und Hayat Haqyar von Asiyah International) fahre ich zu dem von Armut und Gesundheit in Deutschland ins Leben gerufenen Friedhof. Er liegt weitab entfernt, sowohl vom Meer als auch vom Flüchtlingscamp, idyllisch eingebettet in Olivenhaine.
Der Zugang ist zwar nur ein Loch im Zaun, aber dahinter öffnet sich bald ein weitläufiger Bereich, auf dem inzwischen viele Grabstellen mit Betonwinkeln befestigt sind. Ein riesiger und sehr erfreulicher Fortschritt, seit Gerhard Trabert am 10. Oktober zuletzt dort war. Nun soll es auch bald personalisierte Grabsteine geben und dieser Friedhof den verstorbenen Menschen zu einer würdevollen Ruhe- und Gedenkstätte werden. Erst kürzlich sind 17 Frauen dort beerdigt worden, die in unbefestigten Booten von Schleppern bei absehbarem Sturm sozusagen sehenden Auges in den Tod geschickt wurden, so berichtet Fabiola.
Viele Menschen versterben laut ihrer Aussage aber auch im Camp. Es gibt dort keine offizielle oder gar regelmäßige ärztliche Betreuung. Ich bin gespannt, welches Bild sich mir morgen vor Ort zeigen wird und rechne damit, dass ich in erster Linie akute ärztliche Hilfe leisten werden muss, da sehr viele, insbesondere Kinder, akut an Magen-Darm-Infektionen erkrankt seien.
Tag vier: Untersuchungen im Camp
Erstmals fahren wir gemeinsam ins Camp Mavrovouni hinein. Die Sicherheitsvorkehrungen haben sich kürzlich erst verschärft. Man muss sich mit Namen beim Eintritt anmelden und beim Herausgehen oder -fahren mit seiner Unterschrift wieder abmelden.
Ein mit Neuankömmlingen prall besetzter Bus steht am Eingang des Camps und sehr viele Polizisten sind rundherum vor Ort. Wir fahren in Fabiolas Auto bis zu den Containern von Earth Medicine, der Organisation, die auch von Armut und Gesundheit in Deutschland mit finanziert wird. Diese Container sind die schönsten, farbenfrohsten Container im ganzen Camp. Die strahlende Sonne im stahlblauen Himmel hat sogar das Flüchtlingscamp fast freundlich aussehen lassen. Man mag sich nicht die Situation bei Regen, Sturm, Kälte und anstehenden Winter vorstellen.
Ich konnte über den Tag einige Kinder mit Behinderung aufsuchen. Die Krankheitsgeschichten gehen meist schon sehr lange zurück, es gibt keinerlei Unterlagen dazu und hier vor Ort ist keine oder nur sehr wenige Diagnostik möglich.
Immerhin konnte ich für einen kleinen Jungen, der mit 26 Monaten noch kein einziges Wort spricht, einen Hörtest veranlassen, da er auf keinerlei akustische Reize während der Untersuchung reagiert hat. Das Gehör ist existenziell für den Spracherwerb und deshalb ein Hörtest dringend erforderlich. Aber weitergehende neurologische Diagnostik wie MRT oder EEG sind auf Lesbos nicht durchführbar.
Einem 14-jährigen Mädchen mit unklarem Verfall und neurologischen Auffälligkeiten durch eine eventuell zugrundeliegende neurodegenerative Erkrankung werde ich wahrscheinlich nicht wirklich helfen können. Das stimmt mich immer sehr traurig.
Eine Mutter wiederum, die mir sorgenvoll ihre Tochter mit einem auffälligen Gangbild vorstellte, konnte ich beruhigen, dass sich nichts Ernsthaftes dahinter verbirgt. Der Tag in Moria vergeht wie im Fluge.
Eine wohltuende Tradition bei Earth Medicine ist, dass alle Freiwilligen und Angestellten sich nach getaner Arbeit im Office in Mytilini zum gemeinsamen Essen treffen.
Am Abend konnte ich durch mehrere Telefonate mit Kollegen des Kinderneurologischen Zentrums in Mainz klären, dass auch sie eine Epilepsiebehandlung bei einem elfjährigen afghanischen Jungen, den ich morgens untersucht hatte, befürworten. Dadurch bessern sich dann auch hoffentlich die für die Eltern schlimmen Nächte.
Ein prall gefüllter Tag neigt sich dem Ende. Morgen geht es weiter.
Tag fünf: Situation im Camp und weitere Untersuchungen
Ich nehme am frühen Morgen Martina Günther von SpaceEye in meinem Leihauto mit ins Camp und der Ablauf des Anmeldens etc. erscheint mir heute schon fast vertraut. Es stehen bereits einige Kinder mit ihren Eltern Schlange vor den EARTH MEDICINE Container. Gemeinsam mit zwei engagierten Übersetzern – selbst geflüchtete Männer aus dem Camp – können wir schnell eine Reihenfolge nach Dringlichkeit erstellen und mit unserer Arbeit beginnen. Entgegen meiner Annahme gibt es nicht viele akut erkrankte Kinder. Das noch warme, freundliche Wetter spielt dabei eine große Rolle.
Ich erfahre, dass viele Geflüchtete unter Harnwegsinfektionen leiden, besonders wegen der Hygienebedingungen und des kalten Wassers. Auch in den Duschen fließt nur kaltes Wasser. Die Toiletten werden zwar regelmäßig gesäubert, aber ich finde keine einzige in den beiden Tagen vor, die nicht überläuft oder defekt ist.
Jede:r im Camp bekommt 6 Rollen Toilettenpapier im Monat zugeteilt. Man nimmt es zur Toilette mit, aber man findet gar keinen trockenen Platz, um es vorübergehend sauber abzulegen. Die Wasserhähne spritzen in alle Richtungen, ein hygienisches Händewaschen ist nicht möglich, es gibt keine Seifen.
Heute sehe ich neben einigen Akutfällen S. zur Kontrolle wieder, die ich gestern in ihrem Container aufsuchte und fiebrig sowie hustend vorfand. Es geht ihr heute zum Glück besser.
Ich bespreche mit dem Vater, dass wir bei der spastischen Fehlstellung ihrer Füße eine Orthesenversorgung vorschlagen. Damit soll sich zum einen die Fehlstellung nicht weiter verschlechtern und zum anderen kann sie auch wieder auf ihre Füße gestellt werden, was derzeit nicht möglich ist.
Die geplanten individuell angepassten Fußgelenk-übergreifenden Orthesen können auf Lesbos von einem Orthopädietechniker gefertigt werden.
Fabiola konnte bei ihm bereits eine andere, gut gelungene Orthesenversorgung vornehmen lassen. Die Kosten dafür übernimmt Armut und Gesundheit.
Wir überlegen im Team, wie wir den Familien mit beeinträchtigten Kindern unabhängig von einer Hilfsmittelversorgung helfen können und würden gerne eine stundenweise Betreuung der Kinder und damit Entlastung der Familien/Eltern erreichen. Zudem soll die 14-Jährige schwer untergewichtige S. mit in den Wintermonaten tagsüber im geheizten Physiotherapie-Container versorgt und betreut werden.
Sehr gerne würde man die Menschen nach ihrer Flucht, nach ihrer ganz eigenen Geschichte fragen, aber das wäre womöglich erneut traumatisierend und genau das möchte und muss man vermeiden. Manchmal ergibt sich im Gespräch, dass jemand von sich aus etwas erzählt, aber das bleibt die Ausnahme.
Es war ein leider sehr kurzer Einsatz im Mavrovouni (RIIC) Legal Center Lesvos, da am Wochenende keiner von außen ins Camp darf. Aber zum Glück lang genug, um einige Kinder mit Behinderung aufsuchen und ihnen und den Familien etwas helfen zu können.
Ich werde mit Fabiola weiter in Kontakt stehen. Manches konnten wir schon vor meinem Aufenthalt dort über soziale Medien austauschen und erwirken und meine Gedanken werden nach dieser Erfahrung oft bei den Menschen im Camp auf Lesbos sein.