Gemeinsame Erklärung zu medialer Hetze und politischer Instrumentalisierung (hier geht`s zum PDF)
Seit einigen Wochen dominieren Berichte über angeblich „bandenmäßigen Sozialmissbrauch durch EU-Bürger*innen“ die öffentliche Debatte. Ob Tagesschau, WELT oder Talkshows – immer wieder werden Menschen gezeigt, die in prekären Verhältnissen leben. Doch statt Empathie zu wecken, werden sie als „Betrüger*innen“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert. Diese Berichterstattung folgt einem bekannten Muster: Armut wird skandalisiert, Betroffene werden zu Täter*innen gemacht, und komplexe soziale Zusammenhänge werden auf Schlagzeilen verkürzt.
Medien greifen damit Bilder und Worte auf, die rechtspopulistische Erzählungen bedienen. Wenn von „Banden“ und „mafiösen Strukturen“ die Rede ist, werden Angst und Abgrenzung produziert. Die zugrunde liegenden Ursachen – strukturell bedingte Armut, Ausbeutung und fehlender Schutz für Beschäftigte aus anderen EU-Staaten – geraten aus dem Blick. So entsteht eine Debatte, die auf Klicks und Empörung zielt, nicht auf Aufklärung.
Dass führende CDU-Politiker wie der Bundeskanzler und Carsten Linnemann und selbst SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas diese Erzählungen aufgreifen und politische Verschärfungen fordern, ist gefährlich. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist geltendes EU-Recht, das vom Europäischen Gerichtshof immer wieder bestätigt wurde. Wer hier arbeitet, hat Anspruch auf soziale Absicherung, wenn der Lohn zum Leben nicht reicht. Das Bürgergeld ist kein Geschenk, sondern sichert das Existenzminimum. Wer daran rüttelt, stellt nicht nur Solidarität infrage, sondern auch die rechtliche Grundlage der Europäischen Union.
Für viele EU-Bürger*innen in Deutschland ist ein Minijob in Kombination mit aufstockenden Sozialleistungen oft der einzige Weg, Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten. Wenn diese Regelungen geändert oder eingeschränkt werden, verlieren viele Menschen den Versicherungsschutz und damit den Zugang zu medizinischer Versorgung. Das wäre nicht nur sozialpolitisch höchst verantwortungslos, sondern auch ein Bruch mit den grundlegenden Menschenrechten. Ein Ausschluss von EU-Bürger*innen aus dem Gesundheitssystem würde die ohnehin bestehende soziale Ungleichheit nochmals massiv verschärfen und langfristig auch das öffentliche Gesundheitswesen destabilisieren.
Die Wirklichkeit sieht ohnehin anders aus, als sie derzeit medial gezeichnet wird. Organisierter Sozialbetrug kommt vor, betrifft aber einen minimalen Bruchteil der Leistungsbeziehenden: Von 5,5 Millionen Menschen wurden im letzten Jahr 421 Fälle des „bandenmäßigen“ Betrugs erfasst. Die große Mehrheit handelt korrekt, arbeitet, zahlt Steuern und lebt trotzdem unter dem Existenzminimum. Sie haben ein Recht auf Sozialleistungen, also auf Aufstockung und darauf, nicht öffentlich an den Pranger gestellt zu werden.
Ein zusätzlicher Blick auf die Zahlen zeigt, wie die aktuelle Diskussion ist: Die Bundesagentur für Arbeit schätzt den Schaden durch „bandenmäßigen Bürgergeld-Missbrauch“ auf ca. 110 Millionen Euro.
Demgegenüber stehen mindestens 100 Milliarden(!) Euro jährlich, die dem Staat durch Steuerhinterziehung entgehen, sowie Schäden aus Wirtschaftskriminalität, die allein jährlich fast 3 Milliarden Euro ausmachen – Tendenz steigend. Diese Zahlen zeigen: Bürgergeldbeziehende werden überwacht und unter Generalverdacht gestellt, während deutlich größere Finanzschäden kaum Aufmerksamkeit erzeugen.
Bemerkenswert ist, welche Formen von Betrug Empörung auslösen – und welche nicht. Steuerhinterziehung gilt als Kavaliersdelikt, obwohl der Schaden um ein Vielfaches höher ist als bei allen bekannten Fällen von Sozialleistungsmissbrauch zusammen. Wer also von Gerechtigkeit spricht, muss diese Relation sehen.
WIR ERWARTEN VON POLITIKER*INNEN,
dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen, die Fakten im Blick behalten und im Sinne unseres Sozialstaates agieren.
Ein besonderer Appell geht an die, die ein C oder ein S im Parteinamen tragen: Christlich, sozial und demokratisch heißt nicht, Menschen in Not zu diffamieren, sondern soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde mit den Mitteln der Demokratie und sozialer Politik zu verteidigen!
WIR FORDERN MEDIENHÄUSER AUF,
ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachzukommen und differenziert zu berichten. Bilder und Sprache prägen gesellschaftliche Haltung. Tragen Sie nicht weiter dazu bei, Armutsbetroffene zu entmenschlichen. Das widerspricht nicht nur dem Pressekodex, sondern auch jeder Vorstellung von Verantwortung im Journalismus. Und bleiben auch Sie bei den Fakten, statt populistische Parolen zu wiederholen. Es ist Ihre Aufgabe, politische Aussagen kritisch zu überprüfen und in den Kontext der Realität zu setzen!
Armut, unsichere Beschäftigung und Ausgrenzung sind keine Vergehen, sondern Folgen politischer Entscheidungen.
Wir müssen Demokratie, Sozialstaat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt schützen. Das schaffen wir nicht, indem wir Betroffene kriminalisieren, sondern indem wir hinschauen, bei den Fakten bleiben und Armut politisch angehen.
KONTAKT FÜR RÜCKFRAGEN:
Nele Wilk, Johannes Lauxen
Telefon: 06131- 619 86 11 – Mail: presse@armut-gesundheit.de
ERSTUNTERZEICHNENDE ORGANISATIONEN:
- Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.
- Medinetz Mainz
- Medinetz Koblenz
- Clearingstelle Krankenversicherung Rheinland-Pfalz
- Initiativausschuss für Migrationspolitik
MITZEICHNENDE:
agis (antirassistische Gruppe internationale Solidarität) Darmstadt
Amaro Foro e.V.
Anja Frensch
Anna-Florentine König-Letmathe
Arbeitsgemeinschaft der Beiräte für Migration und Integration RLP
Arbeitsgemeinschaft Frieden e.V. Trier
Ärzte der Welt
BACK – Bundesverband anonymer Behandlungsschein und Clearingstelle für Menschen ohne KV
CABL – Clearingstelle und anonymer Behandlungsschein Leipzig
Café International Büchenbeuren
Christian Hinrichs
Der PARITÄTISCHE Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e.V.
Detlef Oertel
DIV Kanun e.V. – Deutsch-Iranischer Verein für Vielfalt und Integr. RLP
Edith Heller
Flüchtlingsrat Mainz
Frauenzentrum Mainz e.V.
Freiburger Anonymisierter Behandlungsschein e.V.
Friedrich Vetter
Für ein buntes Trier – gemeinsam gegen Rechts e.V.
GGUA – Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V.
Hans Schiek
Heike Letmathe
INBI – Institut zur Förderung von Bildung und Integration
Inge Eibach
Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.
Lydia Beck
Mainzer Mitgliederladen – SoNaKo e.V.
Martina Hammel
Medinetz Bielefeld
MediNetz Essen e.V.
Medinetz Frankfurt/Offenbach
Medinetz Freiburg
Medinetz Göttingen
Medinetz Halle/Saale
Medinetz Karlsruhe
Menschenrechtszentrum Karlsruhe e.V.
Miriam Heil
mki – Mainzer Kompetenz Initiativen e.V.
Monja Ben Messaoud/#Armut Verbindet
Multikulturelles Zentrum Trier
Netzwerk diskriminierungsfreies Rheinland-Pfalz e.V.
Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (KritMed)
Nina Christahl, Streetdoc der ÖFG
Omas gegen Rechts Hunsrück Simmern
Peter Kossen
Poliklinik Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig e.V.
Prof. Dr. Sabine Hark
Roland Graßhoff
Sächsischer Anonymer Behandlungsschein e.V.
Sozialforum Kaiserslautern
STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative
STAY! Medinetz
Stolipinovo in Europa
Ute Schwarz-Presber
Verband deutscher Sinti und Roma – Landesverband Rheinland-Pfalz
VSI RLP – Verein Säkularer Islam RLP
Willi Opp
Zentrum für selbstbestimmtes Leben ZsL Mainz